Aykan Safoğlu &
ziyaret, visit ist der zweite Teil einer Essay-Trilogie von Aykan Safoğlu, die das Verhältnis zwischen Fotografie, Transgressionen und dem Erinnern untersucht. Der Film verwebt analoge Polaroid- und Mittelformat-Fotografien, die Prozesse und Visualisierungen ihrer digitalen Abtastungen und eine Voice-Over-Narration, die das Melodramatische zelebriert und die durch den sich wiederholenden Sound des Fotoscanners rhythmisiert wird. Safoğlus Arbeit ist eine einfühlsame Hommage an Generationen von Pflegearbeiter*innen, Aktivist*innen und Kulturschaffende, die sich in dem Lebenswerk der Feministin, Sozialarbeiterin und Pädagogin Gülşen Aktaş verkörpert finden. Die Trägerin des Verdienstordens des Landes Berlin und »Mitglied einer stillen Gemeinschaft von Trauernden« erzählt vor Safoğlus Kamera in großzügiger Weise von ihrer täglichen Care-Arbeit auf Berlins Altem St. Matthäus-Kirchhof. Sie kümmert sich auf dem Friedhof um die Gräber und das Vermächtnis von Freund*innen und Gleichgesinnten. Der 1856 gegründete Friedhof beherbergt bis auch etwa sechzig Gräber, die heute unter Denkmalschutz stehen. Aktaş kümmert sich vorwiegend um die Grabstätten von Mitgliedern der Communities, die antirassistische, queere und feministische Kämpfe ausgefochten haben. Zu diesen Vorfahren zählen die Künstlerin und Freie-Liebe-Aktivistin Helga Goetze, die Feministin und Autorin Hedwig Dohm, die Lesben-Aktivistin Kitty Kuse, die Drag-Legende Ovo Maltine, der Dirigent Israel Yinon, die vielen AIDS-Toten, an die durch das Denkmal positHIV erinnert wird, ihre Mutter Şirin Aktaş, »die zukünftige Ruhestätte deiner langjährigen lesbischen Künstlerinnenfreundinnen«, sowie ihre Freundin May Ayim. »Zu früh von dieser Erde migriert«, wird Aktaş von Safoğlu zitiert, während sie die Erinnerung an die ghanaisch-deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin Ayim wachruft, die Mitherausgeberin der bahnbrechenden Anthologie Farbe bekennen: afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte war. Das Buch gilt als die erste Anthologie politischer Schriften schwarzer deutscher Frauen und ist beinflusst von den berühmt-berüchtigten Berliner Jahren und von der sich selbst als »schwarz, lesbisch, Mutter, Kriegerin, Dichterin« bezeichneten Audre Lorde und ihrem berühmten Konzept der Selbstfürsorge als Akt der politischen Kriegsführung. Mit einem archäologischen Interesse an der kommunalen Gedächtnisstätte verwandelt sich ziyaret, visit in eine zärtliche Verhandlung von intergenerationellen Bindungen, lateral verstandenen Agencies und alternativen Vorstellungen einer Zukunft zugunsten von warmherzigen Zugehörigkeitsdynamiken und Fürsorge-Allianzen jenseits von Raum und Zeit. (Viktor Neumann)